1. Die Einstufung streitgegenständlicher Informationen als geheimhaltungsbedürftig gem. § 16 GeschGehG ist auch in Verfahren zulässig, in denen Ansprüche auf einen Verstoß gegen § 17 UWG a.F. gestützt werden.
2. Es stellt einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör dar, wenn die Partei entscheidungserheblichen Vortrag von einer Einstufung der Informationen als geheimhaltungsbedürftig abhängig macht und über ihren Antrag nach § 16 GeschGehG nicht so zeitig vor der letzten mündlichen Verhandlung durch Beschluss entschieden wird, dass ihr die Möglichkeit einer sofortigen Beschwerde gegen eine ablehnende Entscheidung gemäß § 20 Absatz 5 Satz 5 GeschGehG offensteht.
3. Wird ein Unterlassungsanspruch auf einen Erstverstoß gegen § 17 UWG a.F. gestützt, liegt eine Wiederholungsgefahr nur dann vor, wenn das beanstandete Verhalten auch seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen am 26. April 2019 durchgehend als rechtswidrig einzustufen ist. Ist dies nur deshalb nicht der Fall, weil der Geheimnisinhaber nicht schon vor diesem Zeitpunkt angemessene Schutzmaßnahmen getroffen hat, kann feststellbaren Verstößen gegen § 17 UWG a.F. indizielle Wirkungen für das Bestehen einer Erstbegehungsgefahr für entsprechende Verstöße gegen § 4 GeschGehG zugemessen werden.
4. Die Frage, ob der Geheimnisinhaber angemessene Geheimhaltungsmaßnahmen getroffen hat, ist nach objektiven Maßstäben zu bemessen. Als Mindeststandard ist zu fordern, dass relevante Informationen nur Personen anvertraut werden dürfen, die die Informationen zur Durchführung ihrer Aufgabe (potentiell) benötigen und die zur Verschwiegenheit verpflichtet sind. Zudem müssen diese Personen von der Verschwiegenheitsverpflichtung in Bezug auf die fraglichen Informationen Kenntnis haben. Weitere Maßnahmen sind den Umständen nach zu ergreifen, wobei eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist. Genauso wie das Ergreifen verschiedener verstärkender Maßnahmen zu einem angemessenen Schutzniveau führen kann, kann ein in Kauf genommenes „Datenleck“ zu der Bewertung führen, dass insgesamt kein angemessenes Schutzniveau mehr vorliegt. Letzteres kann angenommen werden, wenn der Geheimnisinhaber es zulässt, dass Mitarbeiter Dateien ohne Passwortschutz auf privaten Datenträgern abspeichern oder wenn Papierdokumente nicht gegen den Zugriff unbefugter Personen gesichert sind.
OLG Stuttgart Urteil vom 19.11.2020, 2 U 575/19 – Schaumstoffsysteme
…
I.
Auf die Berufungen der Beklagten Ziff. 1 bis 3 und auf den Anschlussberufungsantrag Ziff. 5 der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 03.09.2019 – Az. 41 O 3/19 KfH – einschließlich des Verfahrens
aufgehoben
und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Stuttgart
zurückverwiesen.
II.
Die weitergehende Anschlussberufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
III.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem erstinstanzlichen Gericht vorbehalten.
IV.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Streitwert in beiden Rechtszügen:
5.100.000,00 Euro
(Unterlassungsanträge wie vom Landgericht festgesetzt insges. 1,5 Mio. Euro, Schadensersatz: 3,0 Mio. Euro, Auskunft: 0,3 Mio. Euro, Vernichtung 0,3 Mio. Euro)
Gründe
A
1
Die Klägerin verfolgt gegen die Beklagten in einem Geschäftsgeheimnisprozess Unterlassungs- und Folgeansprüche wegen der Verwendung verschiedener Rezepturen für Klebstoffe und Schaumsysteme sowie von Kundenlisten.
I.
1.
2
Die Klägerin ist ein Unternehmen der chemischen Industrie und entwickelt, produziert und vertreibt Polyurethan-Schaumsysteme (PUR) sowie Klebstoffe. Der Bereich der Klebstofftechnik umfasst insbesondere die Herstellung und den Vertrieb von lösungsmittelhaltigen Klebstoffen, Schmelz-Klebstoffen (sog. Hotmelts) und wässrigen Dispersionsklebstoffen. Zu den Kunden der Klägerin zählen unter anderem Unternehmen aus der Automobilindustrie sowie Hersteller von Polstermöbeln und Matratzen. Die PUR-Schaumsysteme der Klägerin dienen der Herstellung von Weich- und Viscoschäumen (für Polsterungen), Integral- und Halbhartschäumen (z.B. für Armlehnen), Filterschäumen, formstabilen Hartschäumen (z.B. für Helme) und Polyurethan-Gießsystemen.
3
Die Produkte der Klägerin sind maßgeschneidert und speziellen Kundenbedürfnissen angepasst. Sie werden aufgrund der Anforderungsprofile der Kunden entwickelt. Hierzu gehören bei PUR-Systemen Parameter wie Dichte, Stauchhärte, Zugfestigkeit und Reißdehnung, bei Klebstoffen Faktoren wie Viskosität, Weichmacher- und Wärmebeständigkeit oder Zugfestigkeit.
4
Die Beklagte Ziff. 1 wurde zum Jahreswechsel 2015/16 von ehemaligen Beschäftigten der Klägerin gegründet und ist auf denselben Geschäftsfeldern als sog. „Formulierer“ tätig; bestritten hat sie allerdings, Rezepturen zu lösungsmittelhaltigen Klebstoffen zu formulieren. Produkte der Klägerin hat die Beklagte Ziff. 1 nicht vertrieben.
5
Der Beklagte Ziff. 3 ist der ehemalige Geschäftsführer und Mitgesellschafter (mit einem Anteil von 10 %) der Klägerin. Die Beklagte Ziff. 2, einst auf Betreiben der Klägerin als „verlängerte Werkbank“ gegründet, arbeitet als „Schäumer“ mit der Beklagten Ziff. 1 zusammen und hat sich auf die Entwicklung und Herstellung von Kunststoffformteilen aus Polyurethan-Kaltschaum spezialisiert. Der Umfang der von der Beklagten Ziff. 1 bezogenen Produkte ist streitig. Der Mitgeschäftsführer der Beklagten Ziff. 2, Herr K., ist ebenfalls ehemaliger Mitarbeiter der Klägerin (dort u.a. verantwortlich für die IT) und Gründungsaktionär der Beklagten Ziff. 1 ohne eigenen Anteil am Grundkapital.
2.
6
Die Beklagte Ziff. 1 wurde im Dezember 2015 gegründet. Zu Vorständen wurden F., N. und S, allesamt vormals der zweiten Führungsebene der Klägerin angehörend, bestellt.
a)
7
Die Arbeitsverträge der Klägerin mit den späteren Gründern der Beklagten Ziff. 1 enthielten Vereinbarungen über nachvertragliche Wettbewerbsverbote, die später – unter streitigen Umständen – unter Mitwirkung des Beklagten Ziff. 3 aufgehoben wurden. Die Wirksamkeit der Aufhebung ist streitig. Die gegen ihre ehemaligen Angestellten gerichteten Klagen auf Unterlassung von Wettbewerbstätigkeiten auf dem Gebiet der Klebstoff- und der Polyurethanschaumtechnik wurden vom Arbeitsgericht Stuttgart rechtskräftig als unbegründet abgewiesen (vgl. beispielhaft Arbeitsgericht Stuttgart – Kammern Ludwigsburg –, Urteil vom 17. März 2017 – 26 Ca 400/16, vorgelegt als Anlage B 7).
8
Weiter enthielten die Verträge folgende Vereinbarungen (Anlage K 11 = B 3):
9
„XI. Verschwiegenheitspflicht
10
Der/die Mitarbeiter/-in verpflichtet sich, über alle ihm/ihr während der Vertragsdauer bekannt gewordenen Betriebsvorgänge und Geschäftsgeheimnisse auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Stillschweigen zu bewahren. Vertrauliche Unterlagen dürfen nur den Betriebsangehörigen offenbart werden, die sie angehen.
11
XII. Aufbewahrungs- / Herausgabepflichten
12
Der/die Mitarbeiter/-in hat sämtliches in seinem/ihrem Besitz befindliche Firmeneigentum einschließlich aller Geschäftspapiere oder etwa gefertigte Abschriften, Fotokopien, Notizen und sonstige Unterlagen sorgfältig aufzubewahren, vor jeder Einsichtnahme Unbefugter zu schützen und auf Verlangen jederzeit, spätestens aber bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses unaufgefordert an die Firma herauszugeben. Stellt die Firma den/die Mitarbeiter/-in, im Zusammenhang mit einer Kündigung von der Arbeit frei, so ist das Firmeneigentum bereits vom Beginn der Freistellung an herauszugeben. Dies gilt auch für einen eventuell überlassenen Dienstwagen.“
13
Die Klagen der Klägerin auf Unterlassung der Verletzung der in Ziff. XI genannten Verschwiegenheitsverpflichtung durch die Benutzung von Rezepturen hat das Arbeitsgericht Stuttgart ebenfalls abgewiesen. Zur Begründung hat es angeführt, dass der Unterlassungsantrag unzulässig, da zu unbestimmt sei. Zudem wäre die Klage auch unbegründet, da die Regelung im Arbeitsvertrag gegen das Transparenzgebot verstoße. Es bleibe offen, was ein Betriebsvorgang sein solle. Mit dieser Formulierung würden zugunsten der Klägerin vermeidbare und damit unzulässige Spielräume eröffnet. Die Klausel benachteilige den Arbeitnehmer auch unangemessen, weil sie auch alltägliche Vorgänge erfasse, an deren Verschwiegenheit die Klägerin kein berechtigtes Interesse habe (vgl. Anlage B 7, S. 11 ff.).
b)
14
Im „Freien Mitarbeitervertrag“ mit dem Beklagten Ziff. 3 war geregelt (Anlage K 11):
15
„§ 5 Geheimhaltung
16
Der Geschäftsführer ist verpflichtet, alle Angelegenheiten und Verhältnisse des Unternehmens, der nahe stehenden Unternehmen und der Gesellschafter gegenüber unbefugten Dritten geheim zu halten. Diese Verpflichtung gilt auch nach Beendigung des Vertragsverhältnisses.
17
§ 6 Wettbewerbsverbot
18
Während der Dauer dieses Vertrags darf der Geschäftsführer im Geschäftszweig des Unternehmens sowie auf verwandten Gebieten weder für eigene noch für fremde Rechnung Geschäfte machen. Es ist ihm insoweit auch untersagt, sich an einem anderen Unternehmen unmittelbar oder mittelbar zu beteiligen, für ein solches tätig zu werden oder solches Unternehmen in sonstiger Weise zu fördern.“
c)
19
Der Arbeitsvertrag mit Herrn K. regelte unter Ziff. V.4 (Anlage K 11):
20
„Sie sind verpflichtet, über Kenntnisse und Erfahrungen, die sie aus Anlass des Anstellungsverhältnisses gewonnen haben und deren Verwertung oder Mitteilung an Dritte die Interessen der Firma schädigen kann, Stillschweigen zu bewahren. Bei Verstößen gegen diese Verpflichtung sind Sie dem Arbeitgeber zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens verpflichtet. Sofern Sie von einem durch andere beabsichtigten oder begangenen Verstoß gegen Geheimhaltungspflichten erfahren, sind Sie verpflichtet, dies der Firma mitzuteilen und an dessen Verhinderung mitzuwirken.“
d)
21
In dem Businessplan der Beklagten Ziff. 1, an dem der Beklagten Ziff. 3 zumindest mitgearbeitet hat, heißt es auszugsweise (Anlage K 10):
22
„Bei der Existenzgründung handelt es sich um einen Spin-Off des kompletten Managements eines etablierten Unternehmens (im folgenden A genannt) der Kunststoffbranche. Start 1.1.2016 (…)
23
Potentielle Kunden sind den Gründern persönlich bekannt. Es besteht bereits eine langjährige Kundenbeziehung.
24
Kaufentscheidender Faktor ist das Produkt Know-how. Dies ist zu 100 % vorhanden. Wettbewerb ist zumindest in der Startphase nicht zu erwarten. (…)
25
Produkt-, Prozess- oder Marktrisiken sind nicht zu erwarten. (…)
26
Eine aktive Akquisition von Kunden wird nicht notwendig sein. Sie werden von sich aus Alternativen zu A suchen.
27
In der Startphase werden überwiegend „Altkunden“ bedient; d.h. es kann sofort mit der Produktion begonnen werden. Anschließend werden zunehmend Neukunden akquiriert, deren Projekte bereits in der Entwicklung sind.
28
Die Kundenbeziehungen bestehen bereits heute auf der persönlichen Ebene des Managements. Unternehmen A wird –